Flüchtlinge, die auf der Balkanroute unterwegs sind und unter Todesgefahr einen reissenden Fluss queren: Valon Behrami, was empfinden Sie, wenn Sie dieses Bild sehen?
Das Bild zeigt die pure Verzweiflung. Wir kennen die Geschichten dieser Menschen nicht, trotzdem können wir mit Bestimmtheit sagen: Wenn jemand bereit ist, sich auf solche Gefahren einzulassen, befindet er sich in existenzieller Not. Dann flieht er vor einer Realität, die noch schlimmer, noch gefährlicher ist als die Situation hier auf dem Bild. Diese Menschen befinden sich im Überlebenskampf. Ich muss dann jeweils daran denken, dass man auch im Fussball oft von «Kampf» spricht. Das kommt einem, wenn man solche Bilder sieht, beschämend vor.
Solche Bilder erreichen uns nahezu täglich. Gewöhnt man sich daran?
Emotionen sind heute etwas sehr Flüchtiges. Dazu tragen vor allem die sozialen Medien bei. Man vernimmt: 40 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Man postet sofort ein Bild, schreibt: I pray for irgendwas. Und zwei Minuten später hat man ein Glas Champagner in der Hand und spricht darüber, welche Schuhe man kaufen möchte. Das Tempo ist zu einem echten Problem geworden. Es hat zur Folge, dass sich immer weniger Menschen auf die schwierigen, grossen Fragen einlassen. Denn dazu braucht man Zeit. Und es ist unbequem, sich diesen Fragen zu stellen. Es tut weh.
Und Sie? Stellen Sie sich dem Schmerz?
Mir ist es wichtig, Zeit zu haben. Auch Zeit für diesen Schmerz. Ich kenne ihn. Gleichzeitig bin ich aber nicht anders als die meisten Menschen: ein bisschen egoistisch. Auch ich denke zuerst an meine Familie und mich. Und genau das ist ja der Grund, weshalb es der Welt nicht so gut geht.
Der Welt ginge es besser, wenn wir den Schmerz zulassen würden?
Sagen wir es so: Die meisten Menschen beginnen sich mit einem Problem zu befassen, wenn es vor der eigenen Türe angekommen ist. Das heisst: Erst wenn die Flüchtlinge hier bei uns sichtbar werden, denken wir ernsthaft darüber nach. So lange das Flüchtlingselend nur als Bild, als News-Video zu uns kommt, nehmen es die meisten bloss beiläufig wahr.
Mit Valon Behrami sprachen Hannes Nussbaumer und Thomas Schifferle in London.
Fotos und Video: Tom Egli
Die Serie
Und jetzt? Gespräche zum Jahreswechsel
Zwischen Weihnachten und Neujahr unterhalten wir uns mit acht Interviewpartnern über das, was die Schweiz und die Welt bewegt. Zu Beginn steht immer ein Bild aus dem Jahr 2016. Und die Frage: Was wird jetzt daraus?
Valon Behrami über das Elend von Flüchtlingen
Erschienen am 28. Dezember 2016
Sarah Diefenbach über die Generation Selfie
Erschienen am 30. Dezember 2016
Roger Köppel & Daniel Jositsch über die Linke und die Rechte in der Schweiz
Erschienen am 31. Dezember 2016
Die Gespräche mit Anne Applebaum, Carlo Strenger, Wolfram Eilenberger und Chappatte finden Sie in unserer Collection auf Tagesanzeiger.ch oder auf DerBund.ch
Wenn Sie solche Bilder sehen: Denken Sie dann an Ihre Flucht?
Mir kommen dann die Berichte meiner Verwandten in den Sinn. Meine Eltern, meine Schwester und ich flohen, als in Kosovo noch kein Krieg war. Den richtigen Krieg erlebten später meine Verwandten. Wenn sie davon erzählen, wie sie in den Bergen übernachten mussten, wie sie das Zischen der Raketen hörten und nie wussten, wo diese einschlagen würden – dann zeigen ihre Augen und die Art, wie sie reden: Sie erlebten etwas, das ganz tief geht und das sie nie mehr vergessen. Ich hatte keine so schlimmen Erlebnisse.
Aber das Gehen-Müssen, das Fliehen-Müssen: Das haben Sie erlebt.
Das ja. Allerdings habe ich das nicht als dramatisch empfunden. Ich war ja noch sehr klein – fünfjährig. Meine Erinnerungen sind vor allem positiv: Wir wurden von der Schweiz gut aufgenommen. Wir fühlten uns willkommen. Darüber waren wir sehr glücklich. Wir erlebten eine Schweiz mit offenen Armen. Daran denke ich oft, wenn ich die Bilder der Flüchtlinge von heute sehe: Ich wünsche auch ihnen eine Schweiz, die sie mit offenen Armen empfängt.
Ist die Schweiz dazu in der Lage?
Ja, die Schweiz und Europa insgesamt sind in der Lage, diese Offenheit zu pflegen. Davon bin ich überzeugt. Ich finde, jeder sollte ein bisschen dazu beitragen, dass die Welt besser wird: wir, indem wir offener sind und die Flüchtlinge unterstützen. Die Flüchtlinge selber, indem sie hier arbeiten und sich engagieren.
Verfolgen Sie die Entwicklungen in der Flüchtlingskrise?
Wir wissen wenig über die konkrete Realität in den Herkunftsländern – das war vor 25 Jahren nicht anders. Wir sehen vor allem das, was man uns zeigen will, und nicht das, was wirklich ist. Eine Gewissheit gibt es allerdings: Man flieht nur, wenn es keine andere Option mehr gibt. Die Verzweiflung zeigt sich ja auch im Umstand, dass Flüchtlinge alles riskieren – auch ihr Leben.
Zur Person
Valon Behrami: Die Wandlung eines Fussballers
Geboren am 19. April 1985 in Mitrovica, der seit dem Kosovo-Krieg in einen serbischen und einen kosovarischen Teil gespaltenen Stadt. Als er fünfjährig ist, entschliessen sich seine Eltern zur Flucht in die Schweiz. Die Familie führt einen langen Kampf, bis sie Anfang 1998, nach sieben Jahren, die Aufenthaltsbewilligung erhält.
Behrami wird 2002 Schweizer und zerreisst seinen serbischen Pass. Er spielt bei Lazio Rom, als er im Oktober 2005 für das Nationalteam debütiert und schon in seinem zweiten Einsatz gegen die Türkei ein wichtiges Tor erzielt. Danach verliert er sich und fühlt sich bereits wie ein Star.
Trotz WM- und EM-Teilnahmen dauert es bis zur WM 2014 in Brasilien, bis er sich als Nationalspieler richtig akzeptiert fühlt. Das hat mit seinem Wandel als Mensch zu tun und seiner Einsicht, Kritik als Anlass zu nehmen, um etwas zu lernen.
Inzwischen ist er als Leader hoch geschätzt. Behrami spielt seit 2003 im Ausland. Nach Genoa, Verona, Lazio, West Ham, Fiorentina und dem Hamburger SV ist Watford seit dem Sommer 2015 seine siebte Station. Es wird auch seine letzte sein. Er sehnt sich nach einer Rückkehr in die Schweiz.
Welches sind Ihre Erinnerungen an die Flucht in die Schweiz?
Wir fuhren mit einem Bus von Mitrovica in die Schweiz. Am 4. Dezember 1990 überquerten wir frühmorgens im Tessin die Grenze. Wir kamen nach Bellinzona und wurden dort in einem Hotel untergebracht. Daran erinnere ich mich genau: Es war sehr kalt, und es hatte viele Parkplätze vor dem Hotel.
Es war kein Hotel wie dieses sehr schöne, in dem wir gerade sitzen?
Nein, das war es nicht. Wobei (lacht): Mir gefiel es sehr in jenem Hotel – ich konnte mir kein schöneres vorstellen. Man gab uns dann etwas zu essen. Das gefiel mir allerdings weniger: Das Essen schmeckte nicht wie zu Hause. Danach gingen wir aufs Zimmer und hörten eine alte Kassette mit albanischer Musik.
Wann war der Moment, als Sie fanden: Jetzt sind wir in Sicherheit?
Für meinen Vater gab es diesen Moment – für mich nicht, ich war zu klein. Für meinen Vater war es gefährlich geworden in Kosovo, denn bei den Übergriffen durch die Polizei und andere Schlägertrupps war immer der Mann das Ziel. In der Schweiz fühlte sich mein Vater wieder sicher. Gleichzeitig spürte er aber einen grossen Druck. Wir befanden uns in einer ganz neuen Umgebung, und niemand wusste, wie es weitergeht.
Warum genau war es für Ihren Vater gefährlich geworden in Mitrovica?
Ab Ende der 1980er-Jahre wurde es für die Albaner in Kosovo immer schwieriger. Sie wurden schikaniert, bekamen keine Arbeit mehr und wurden willkürlich von der Polizei aufgegriffen und verprügelt. Das ist eines Tages auch meinem Vater passiert. Er kam nach Hause und sagte: Wir müssen gehen.
Was arbeiteten Ihre Eltern damals?
Mein Vater war Direktor einer Firma, die Kunststoff herstellte. Meine Mutter war Sekretärin. Wir hatten ein gutes Leben. Wenn der Krieg nicht gekommen wäre, würden wir vielleicht noch immer dieses gute Leben dort führen, und ich wäre ein gewöhnlicher junger Mann.
Was würden Sie vorziehen, wenn Sie wählen könnten? Das gewöhnliche Leben in Mitrovica oder das Leben als Schweizer Fussballheld?
Es überrascht Sie vielleicht, aber ich würde das Leben als gewöhnlicher Valon in Mitrovica vorziehen. Natürlich habe ich ein sehr schönes Leben hier, ich verdiene gut und kann mir sehr vieles leisten. Und ich bin sehr glücklich als Schweizer und sehr dankbar. Gleichzeitig hat der Krieg unbeschreibliches Leid über meine Familie gebracht. Verwandte von mir sind ums Leben gekommen, andere haben alles verloren. Am liebsten wäre mir, das alles wäre nie geschehen, und wir würden als grosse Familie zusammenleben.
Wie erlebten Sie den Druck, unter dem Ihre Eltern in der Schweiz standen?
Sie waren zutiefst überzeugt: Wir wollen hier arbeiten, egal was, und etwas Neues aufbauen. Ich glaube, dass jeder, der einmal auf der Flucht war, diese Haltung einnimmt. Man will um jeden Preis wieder ein Fundament finden. Wer die Verzweiflung des Flüchtlings erlebt hat, dem ist danach kein Job zu unbequem, zu kalt, zu schlecht bezahlt.
Welche Jobs hatten Ihre Eltern?
Mein Vater packte Salamis in Kühlwagen, meine Mutter arbeitete zuerst in einer Fabrik, die Zylinder für Autos herstellte. Danach wurde sie Putzfrau. Wir wohnten in Ligornetto, die Eltern arbeiteten in Stabio, etwa vier Kilometer entfernt. Täglich gingen sie zu Fuss hin und zurück, um Geld sparen zu können. Meine Schwester und ich waren alleine zu Hause. Meine Schwester musste auf mich aufpassen – sie war damals neun, ich sieben Jahre alt. Einmal schlug ich mit dem Kopf an der Tischkante auf. Es blutete stark. Meine Schwester rief meine Mutter an, und diese rannte nach Hause. Für meine Mutter war das eine sehr schwierige Zeit. Sie musste und wollte arbeiten und machte sich gleichzeitig grosse Sorgen um uns Kinder.
Der Arzt nähte das Loch im Kopf wieder zu?
Es ging auch ohne Arzt. Seither bin ich halt einfach manchmal nicht ganz klar im Kopf. (lacht laut)
«Meine Eltern gingen täglich vier Kilometer zu Fuss zur Arbeit.»
In der Schweiz erlebten Sie lange Jahre der Ungewissheit: Dreimal wurde Ihrer Familie beschieden, sie müsse die Schweiz verlassen.
Meine Eltern gaben sich grosse Mühe, uns Kinder nicht zu belasten. Ich weiss, dass es für sie schwer war. Doch ich war in jener Zeit glücklich. Allmählich führten wir ein einfaches, aber normales Leben. Meine Schwester und ich gingen gerne zur Schule. Das Schönste aber war: Wir waren immer miteinander. Eine kleine Wohnung hat ja auch ihr Gutes: Man ist sich sehr nahe. Und wir hatten wirklich eine sehr kleine Wohnung.
Sie teilten sich mit Ihrer Schwester das Zimmer?
Wir schliefen alle vier zusammen im Wohnzimmer. So habe ich immer gut gespürt, wenn es schwierig war – auch wenn die Eltern nicht direkt darüber sprachen. Sie reagierten auf die Ungewissheit, indem sie uns ganz fest das Gefühl gaben: Egal was kommt, egal was passiert – wir bleiben zusammen. Das hat mich geprägt, auch im Fussball: Ich setze mich stets 100-prozentig für das ein, was mir wichtig ist. Und wenn es trotzdem nicht geht, dann akzeptiere ich es. Es gibt Dinge, die nicht gehen. Meine Eltern sagten immer: «Wir tun alles, damit wir bleiben können. Aber wenn es nicht geht, dann geht es nicht.»
Es ging dann, aber es brauchte am Ende – 1998 – den Einsatz eines Tessiner Lokalpolitikers, damit Sie und Ihre Familie bleiben konnten.
Ja. Dabei stand damals, als wir hätten zurückkehren sollen, die schlimmste Zeit des Krieges noch bevor.
Sie wussten immer, wie es den Verwandten in Kosovo ging?
Nein! Die Ungewissheit, wie es um die Verwandten steht, war das Allerschwierigste während des Kriegs. Eine regelmässige Kontaktmöglichkeit gab es nicht. Wir hatten nur die «Tagesschau». Wenn diese berichtete, dass es wieder zwanzig Tote bei einem Raketeneinschlag gegeben hat, und zwar gerade dort, wo die Verwandten lebten – dann begann für uns ein schlimmes Warten, Hoffen und Bangen. Oft ging es einen Monat lang, bis ein Lebenszeichen kam.
Es gab keine direkte Telefonverbindung?
Nein. Die Verwandten mussten in die Stadt, um telefonieren zu können. Das durften sie aber nur am Tag.
Waren Sie als Kind nie neidisch auf die Kollegen, die mehr besassen als Sie und weniger Sorgen hatten?
Ich war damals mit sehr wenig zufrieden. Ich bekam etwas Kleines und konnte mich den ganzen Tag damit beschäftigen. Das ist bei meinen Kindern anders, die haben 120 Spielsachen und möchten trotzdem immer noch mehr und noch mehr. (lacht) Aber das ist vermutlich normal. Man passt sich der Realität an, in der man als Kind aufwächst.
«Wir schliefen alle vier zusammen im Wohnzimmer.»
Ihr Erfolg als Fussballer brachte es mit sich, dass Sie plötzlich sehr viel verdienten. Da änderte sich die Realität fundamental ...
Das stimmt, und es gab Zeiten, da waren für mich Statussymbole sehr wichtig. Das hat sich mit den Jahren allerdings gelegt. Ich brauche heute weder Ibiza noch Party – ich brauche nur meine Familie, dann bin ich glücklich. Wenn ich gesagt habe, dass mir das gewöhnliche Leben in Mitrovica lieber wäre als das Leben hier in London, dann hat das auch damit zu tun: Ich vermisse meine Familie und meine Verwandten.
Wie gross ist denn Ihre Familie?
Die Familie in Kosovo ist gross, sehr gross. Ich weiss gar nicht von allen den Namen. Mein Vater hat sieben Brüder und zwei Schwestern, jeder und jede hat drei bis vier Kinder. Meine Mutter hat zwei Brüder und zwei Schwestern, auch diese haben Kinder. Wenn ich in Kosovo bin und wir zusammen in eine Bar gehen, ist sie schon fast voll. (lacht)
Lernt man in Extremsituationen, was wirklich wichtig ist im Leben?
Ja, aber es ist nicht so, dass die Erkenntnis, was wichtig ist, sofort da war. Ich brauchte für den Weg dorthin ziemlich viel Zeit. Viele Fussballer brauchen dafür lange. Und es gibt nicht wenige, bei denen die Erkenntnis erst gekommen ist, als sie kein Geld mehr hatten.
Als 19-Jähriger wurden Sie von Lazio Rom verpflichtet. Damals fielen Sie vor allem auf, weil Sie sehr teure Autos fuhren, auch um Mitternacht noch eine Sonnenbrille trugen und überhaupt sehr cool waren ...
(lacht) Ja, es gab diese Zeit. Im Rückblick denke ich, dass ich der Welt demonstrieren wollte: Ich habe es geschafft. Das war mir wichtig – wohl nicht zuletzt deshalb, weil meine Familie sich ja lange kaum etwas hatte leisten können. Ich habe aber schon damals oft nachgedacht über mich und meine Rolle. Und so kam es, dass ich nach fünf, sechs Jahren jenen Valon hinter mir lassen konnte. Wenn ich heute zurückblicke, merke ich: Ich mag jenen Valon nicht. Aber es brauchte wohl jene Phase, damit ich zum heutigen Valon werden konnte.
Sie sind ein Spieler mit unbändigem Willen und Kampfgeist. Ist das Ausdruck Ihrer Biografie?
Schon möglich. Ich erinnere mich an eine Situation, als ich dreizehn Jahre alt war. Da hatten wir ein Spiel, trotzdem traf ich mich am Abend vorher mit Kollegen. Mein Vater war darüber zutiefst enttäuscht. Ich sehe sein Gesicht noch heute ganz genau. Obwohl ich in jenem Spiel zwei Tore geschossen hatte, änderte das überhaupt nichts an seiner Enttäuschung. Für ihn war völlig klar: Wenn man etwas macht, macht man es kompromisslos. Und dann liegt es nicht drin, am Abend vor dem Spiel Kollegen zu treffen. Das hat mich tief geprägt.
Heute sind Sie ein Vorbild. Sie können gerade jungen Menschen mit schwierigen Startbedingungen Mut machen.
Ein Vorbild möchte ich vor allem für meine Kinder sein. Was mir aber sehr am Herzen liegt, ist die Botschaft: Alles ist möglich. Doch man muss wollen. Oft sagt jemand: «Ich hatte halt nicht die Möglichkeit ...» In den meisten Fällen ist das eine Ausrede. Man hat fast immer die Möglichkeit. Aber man muss die Chance packen wollen.
«Das gewöhnliche Leben in Mitrovica wäre mir lieber.»