«Überleben ist in der Schweiz so anstrengend»

Der Filmemacher Dani Levy erzählt, warum er nach Berlin ausgewandert ist und was ihm die Schweiz bedeutet.

Dani Levy, Filmemacher, Berlin. Foto: Raisa Durandi

Dani Levy, Filmemacher, Berlin. Foto: Raisa Durandi

Sie leben seit etwa dreissig Jahren in Berlin.
Schon länger. Inzwischen sind es 36 Jahre.

Obwohl Ihre jüdische Familie 1939 aus Berlin flüchten musste.
Wir haben in unserer Familie über die Vergangenheit meiner Mutter und meiner Grosseltern nur wenig gesprochen. Sie war als Elfjährige mit ihrer Schwester und ihrer Mutter aus Berlin herausgeschmuggelt worden. Aber darüber hatte ich fast keine Informationen.

Und Sie haben nie nachgefragt?
Nein, ich wuchs in einem Haushalt auf, in dem man die Kriegsvergangenheit und den Nationalsozialismus tabuisierte. Auch über meine Grosseltern, meine Grosstante und weitere Verwandte, von denen einige im Holocaust umgekommen sind, haben wir so gut wie nie geredet. Es hat einige Jahre gedauert, ehe mir bewusst wurde, was es für meine Familiengeschichte und für mich als Juden bedeutete, dass ich 1980 nach Berlin zog – in die Stadt, aus der man meine Mutter und meine Grosseltern vertrieben hatte.

Warum zogen Sie nach Berlin?
Ich habe Ende der 1970er-Jahre in Basel die Berliner Theatergruppe Rote Grütze kennen gelernt, mich in sie verliebt und sie in Berlin besucht. Ich war begeistert von ihrer Art, zu leben und Theater zu machen, von ihrer Wildheit und Anarchie, die so ganz anders war als bei unserer braven, etwas bürokratischen Theatergruppe. Und natürlich war ich begeistert von Berlin. Die 1980er-Jahre waren die Zeit der Hausbesetzer- und Friedensbewegung, ich lebte in einer WG. Es herrschte Krawall in Berlin, es war eine stürmische Zeit. Das hat mir sehr gefallen.

Mit Dani Levy sprach Sandro Benini in Berlin

Paul Nizon behauptet in seinem Buch «Diskurs in der Enge», ein Künstler müsse die langweilige, mittelmässige Schweiz verlassen, um sich entfalten zu können. Stimmt das?
Ich habe es damals so empfunden. Die Schweiz hatte eine Bravheit, die mich nicht richtig träumen liess. Aber es gibt viele herausragende Künstler, die in ihrem kleinen, engen Raum geblieben sind und gerade aus ihrer Provinzialität heraus tolle Kunst gemacht haben. Kategorisch zu behaupten, in einem kleinen Land könne keine grosse Kunst entstehen, halte ich für abgedroschen. In meinem Bereich zum Beispiel ist die Schweiz immer noch führend, was Dokumentarfilme betrifft: das Beobachten von kleinen Leuten und Geschichten, auf innovative, künstlerisch hochstehende Art und Weise.

Ihrem 2015 uraufgeführten Theaterstück «Schweizer Schönheit» haben einige Kritiker vorgeworfen, abgedroschene Schweizer Klischees aufzuwärmen.
Das Stück handelte trotz seines Titels nicht in erster Linie von der Schweiz, sondern vom Mittelstand, der sich in der Agglomeration ausbreitet. Es hätte genauso gut in Österreich oder Deutschland stattfinden können, weil es dort die Form von Spiessbürgerlichkeit, die ich parodiert habe, genauso gibt. Ausserdem ist das Schöne an Klischees, dass sie meistens stimmen.

Was mögen Sie nicht an der Schweiz?
Geld ist das grösste Problem der Schweiz. Der ökonomische Druck macht es anstrengend, zu überleben. Man braucht eine gute Stelle. Alles ist teuer: Krankenkasse, Zahnarzt, Kinderbetreuung. In Berlin kostet eine Ganztagesbetreuung für ein Kind 250 Euro im Monat, auch wenn die Eltern gut verdienen. So etwas ist in der Schweiz unvorstellbar.

«Ich fühle mich total als Schweizer. Die Schweiz ist meine Heimat.»

Fühlen Sie sich trotzdem noch als Schweizer?
Ich fühle mich total als Schweizer. Die Schweiz ist für mich auch nach 36 Jahren noch bekanntes Terrain, ich finde mich zurecht, ich fühle mich auch sprachlich noch immer zu Hause. Die Schweiz ist meine Heimat, weil ich weiss, wie sie riecht, wie der Fussballplatz aussieht. Wenn ich hier in Berlin Schweizer treffe, ergibt sich meist eine seltsame Verbindlichkeit und Kumpelhaftigkeit. Das ist ähnlich, wie wenn ich andere Juden treffe.

Sprechen Sie mit Ihren Kindern Schweizerdeutsch?
Nein, überhaupt nicht.

Weshalb?
Ich habe einige Versuche gemacht, aber sie haben gemotzt. «Papa, red normal.» Meine Frau ist Deutsche, wir leben in einem deutschen Umfeld, ich spreche den ganzen Tag Hochdeutsch. Deshalb habe ich es irgendwie verpasst, mit meinen Kindern Schweizerdeutsch zu sprechen.

Sprechen Sie selber nach 36 Jahren so, dass Ihnen ein Einheimischer Ihre fremde Herkunft nicht mehr anmerkt?
Das ist ein bisschen von der Tagesform abhängig. Wenn ich gut ausgeschlafen bin, rede ich so, dass man den Schweizer nicht heraushört. Wenn ich müde und etwas unaufmerksam werde, drückt es manchmal durch. Es kommt noch immer vor, dass ich Wörter falsch betone. Die Schweizer sagen zum Beispiel: «Ich wohne in einer WG», mit dem Akzent auf dem W. Auf Hochdeutsch müsste er auf dem G liegen. Aber mir war das auch immer egal. Ich bin kein Schauspieler, der Bühnendeutsch gelernt hat und sich in Deutschland durchsetzen muss. Ich habe auch nie versucht, herumzuberlinern, denn das klingt selbst bei einem auswärtigen Deutschen ganz einfach doof.

«Sehr viele Berliner sind unfreundlich. Aber bei den Zürchern ist es auch so.»

Vier Fragen, vier Antworten: Dani Levy im Videointerview. Video: Raisa Durandi.

Lesen Sie Schweizer Medien?
Selten. Auf meinem Handy habe ich die «Süddeutsche», den «Spiegel» und die «New York Times».

Weder «Tages-Anzeiger» noch NZZ?
Ich muss zugeben, nein.

Wie ist das Image der Schweiz in Berlin?
Es gibt natürlich immer noch die üblichen alten Klischees wie Langsamkeit, Gemütlichkeit, Niedlichkeit oder angestrengte Höflichkeit. Aber die Deutschen, die einmal in der Schweiz waren, wissen, dass das letztlich Quatsch ist. In letzter Zeit ist die Schweiz durch die Diskussion um Europa und um die direkte Demokratie, aber auch um das Bankgeheimnis und Schwarzgeldkonten durchaus auch in Deutschland zu einem wichtigen Thema geworden.

Es leben mittlerweile jede Menge Schweizer Schriftsteller und andere Künstler in Berlin. Stört Sie das?
Überhaupt nicht. Warum sollte es?

Weil Sie damals in den 1980er-Jahren ein Pionier waren, während heute In-Berlin-Leben so eine Art Schweizer Künstlermarotte zu sein scheint.
Das kriege ich in dieser krassen Form gar nicht mit. Berlin ist weltweit zu einem Wahnsinnsmagnet geworden. Was hier an Amerikanern, Spaniern, Skandinaviern und Arabern leben, ist unglaublich. Die noch bis vor kurzem sehr tiefen Immobilienpreise haben Tausende dazu bewogen, in Berlin schnell eine Wohnung zu kaufen. Und genau deshalb ist es nicht mehr dieselbe Stadt, die ich in den 1980ern kennen gelernt habe. Damals kamen vor allem Outlaws nach Berlin.

Bedauern Sie diese Entwicklung?
Das ist überall so, und wenn nicht, setzt es irgendwann ein. Das erlebt wahrscheinlich auch jemand, der nach Addis Abeba zieht. Unsere Welt gentrifiziert sich.

Berliner gelten als unhöflich. Stimmt das?
Ja, es gibt diesen lakonischen, schlecht gelaunten, trockenen Berliner Humor. Sehr viele Berliner sind wahnsinnig unfreundlich. Aber bei den Zürchern ist es auch so.

«Mit Kino oder Theater kommst du nie so weit wie mit dem Fernsehen.»

Das wichtigste historische Ereignis in der jüngeren Berliner Geschichte war die Nacht des Mauerfalls am 9. November 1989. Wie haben Sie sie erlebt?
Ich war wegen eines Todesfalls in der Familie meiner damaligen Freundin nicht in der Stadt.

Den Deutschen wird oft mangelnde Gelassenheit vorgeworfen, das Schwanken zwischen extremen emotionalen Stimmungen. Während der Flüchtlingskrise herrschte zuerst die grosse romantische Willkommenskultur und dann plötzlich Weltuntergangsstimmung.
Jetzt muss ich Deutschland in Schutz nehmen. Wenn man in einem Jahr 1,2 Millionen Flüchtlinge aufnimmt, die aus einem Kriegsgebiet stammen und ein Recht auf Schutz haben und wenn man dabei von allen anderen europäischen Ländern alleingelassen wird, obwohl es sich um ein europäisches Problem handelt, dann stösst ein Staat irgendwann an seine Grenzen.

Werden Sie bei Ihren Schweiz-Besuchen noch auf der Strasse erkannt?
Viel weniger als in den 1980er- und 1990er-Jahren, als mich wegen der Fernsehserie «Motel» jeder als Peperoni ansprach. Das war unerträglich. Ständig dieses Gefühl, beobachtet zu werden und in der Öffentlichkeit zu stehen – auch wenn die Reaktionen ja meistens positiv und nett waren. Trotzdem war ich damals wirklich froh, nicht in der Schweiz zu leben. «Motel» hatte einen Marktanteil von, was weiss ich, 50 oder 60 Prozent.


1957 als Sohn jüdischer Eltern in Basel geboren, begann Dani Levy nach der Matura als Clown und Schauspieler aufzutreten. 1980 zog er nach Berlin, vier Jahre später wurde er einem breiten Schweizer Publikum durch seine Rolle als Küchengehilfe Peperoni in der Fernsehserie «Motel» bekannt. Sein erster Film «Du mich auch», den Levy 1989 drehte, wurde zu einem grossen Erfolg und geniesst bis heute Kultstatus. Levy hat für mehrere weitere Komödien das Drehbuch geschrieben, führte Regie und trat als Hauptdarsteller auf. Sein jüngstes Werk «Die Welt der Wunderlichs» kommt im Oktober in die Kinos. Der Filmemacher lebt mit seiner Partnerin zusammen und ist Vater zweier Kinder. (ben) – Foto: Raisa Durandi

Ihre wichtigste künstlerische Hinterlassenschaft in der Schweiz ist Peperoni?
Es hat nachher zumindest nichts mehr gegeben, was ähnlich eingeschlagen hätte. «Motel» schauten jeden Sonntag eine Million Leute. Wenn ich wanderte, rief noch im hintersten Tal der Käser jeweils: «Oh, das ist Peperoni. Willst du ein Stück Käse?» Danach habe ich den ersten Kinofilm gemacht, der wirklich toll lief, und gesehen haben ihn 100'000 Personen. Mit Kinofilmen oder Theaterstücken kommst du nie so weit wie mit dem Fernsehen.

Sie sagen das mit einem gewissen Kulturpessimismus.
Nein, überhaupt nicht. Ich habe mich bewusst für ein Medium entschieden, das weniger populär ist, aber faszinierender. Im Kino sitzt man eineinhalb Stunden mit anderen Leuten in einem dunklen Raum gruppendynamisch zusammen, vor einer grossen Leinwand und mit super Sound. Und niemand steht auf, um kurz mal Geschirr abzuwaschen oder Bier zu holen. Das ist für mich eine magische Art, die Kunstform Film zu geniessen. Wenn es dann halt nur 20'000 oder 50'000 Leute sind, ist mir das lieber, als wenn es fünf Millionen am Fernsehen schauen.

Sind Schweizer Filmkritiker freundlicher als deutsche?
Sie sind im Grossen und Ganzen nicht nur freundlicher, sondern auch empathischer und neugieriger. Deutsche Kritiker empfinde ich oft als oberlehrerhaft, mit der Attitüde: schlecht, ungenügend, setzen. Das habe ich in der Schweiz viel weniger erlebt.

Was wollen Sie in Ihrem Leben noch erreichen?
Eine sehr lange Wanderung machen, ein paar Monate zu Fuss. Ich bin schon einmal von Basel nach Nizza gewandert. Ich möchte mit meinen beiden Kindern ein Jahr im Ausland leben. Und was Filme betrifft, hätte ich es gerne einfacher. Der Kampf um die Finanzierung ist zermürbend, ich fühle mich bei jedem neuen Projekt wieder wie ein Anfänger, dem die Skepsis irgendwelcher Fernsehredaktionen entgegenschlägt. Ohne Unterstützung durchs Fernsehen kriegt man in Deutschland keinen Kinofilm mehr hin. Mein Traum ist, dass jemand kommt und mir sagt: Levy, hier hast du das Geld für die nächsten drei Filme. Mach damit, was du willst. Das wäre wirklich genial.

Impressum

Idee und Konzept: Sandro Benini, Vincenzo Capodici
Texte: Sandro Benini, Vincenzo Capodici, Rudolf Wyder, Felix Maise
Fotos und Video: Raisa Durandi, Sabina Bobst, Keystone, Auslandschweizer-Organisation
Interaktive Grafik: Marc Fehr
Produktion: Vincenzo Capodici
Projektleitung: Dinja Plattner

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«Wenn ich hier in Berlin Schweizer treffe, ergibt sich meist eine seltsame Verbindlichkeit und Kumpelhaftigkeit»: Dani Levy. Foto: Raisa Durandi

«Wenn ich hier in Berlin Schweizer treffe, ergibt sich meist eine seltsame Verbindlichkeit und Kumpelhaftigkeit»: Dani Levy. Foto: Raisa Durandi

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